Frozen And Forget
frostige Gedanken zu einem fast schon wieder vergessenem Dekaden-Song
oder: jeder Generation ihre Helden

 

Viel ist schon gesagt und geschrieben worden über Disneys Eiskönigin und vieles von den Kritikpunkten über Hollywood-Klischees, Kommerzgedanken und all zu konstruierter Handlung ist wahr. Speziell in der Erschaffungs-Szene des Eispalastes hat Disney für mich persönlich die Brücke zur CGI-Barbie geschlagen, welche von einem Konkurrenz-Filmriesen seit Jahren in Szene gesetzt und verhökert wird. Doch niemand scheint sich letzten Endes dem Juwel des Films entziehen zu können, der donnernden Arie Let it go. Man kann es drehen und wenden, wie man will, dieser Song ist und bleibt ungebrochen fantastisch. Wieso? Ist die Melodie derart außergewöhnlich? Emotional fesselnd sicherlich, sich gekonnt zum Höhepunkt hochschraubend selbstverständlich, aber außergewöhnlich? Eigentlich nicht. Man könnte darüber diskutieren, ob das Arrangement fesselt oder der Rhythmus einen in den Bann zieht, wird aber auch hier keine tiefgreifende Erklärung für dieses Phänomen finden können. Es muss also die Verbindung zum Inhalt sein, die hier diese Außergewöhnlichkeit zum Ausdruck bringt und Let it go zu einem Generations-Song macht, wie es in der Unterhaltungsmusik nur alle Jubeljahrzehnte passiert. Let it go ist kein Lovesong, und genau da liegt der Hund begraben. Mehr als cineastische Evergreen-Schmachtfetzen wie (Everything I do) I do it for you, I will always love you oder My heart will go on tritt diese Komposition über die Grenzen des allgemein verstandenen Mainstreams hinaus.

Wenn man in der Rock- und Popgeschichte der letzten Jahrzehnte herum kramt, findet man heraus, dass dies nur die Größten der Großen in dieser Form geschafft haben. Als die Beatles 1963 She loves you intonierten, sprachen sie in ihrer gezähmt-rebellischen Pose Millionen von Jugendlichen aus der Seele, die sich von den konservativen Zwängen ihrer Eltern befreien wollten. San Francisco, ein simpel klingendes Machwerk, 1967 von Scott McKenzie gesungen, war der Lockruf an die Westküste Kaliforniens für Tausende, um dort ihrer gewaltfreien Ideologie nach Liebe zu frönen, und Smells like Teen Spirit spiegelte die desillusionierte Generation-X wieder, welche der Zukunft mit Angst und Abscheu entgegen sah. Altbackene Rockfans dürften bei der Auswahl der eben erwähnten Klassiker im Vergleich zu Let it go das ein oder andere graue Haar bekommen, aber das wird sich mit der Zeit verwachsen ^^ Für diejenigen, die es noch immer nicht mitbekommen haben: Die klassische Rockmusik ist schon lange tot. Michael Stipe hat längst Glauben und Glaubwürdigkeit verloren, Thom Yorke ist in den Weiten des Internets verloren gegangen und Bono verschachert seine Renten-Ergüsse zum Unmut der Phono-Industrie unlängst über I-Tunes. Übrig geblieben sind sonnengebräunte Post-Grunger und hippe Highschool-Garagen-Punks, die radioverträglich und massentauglich das Erbe ihrer Vorbilder zu Grabe tragen.

Die unheilschwangere Zukunft der Generation-X ist heute. Wir sehen Jugendliche mit ihren Smartphones, kaum dass sie auf die Straße schauen, über Zebrastreifen gehen. Kinder, die sich sogar am selben Tisch bei McDonalds lieber Nachrichten zusenden, als sich gepflegt zu unterhalten. Erwachsene, die ohne ihr Elektronikhirn sogar ihren eigenen Geburtstag vergessen würden. Nur die Spitze dieses sozial-krankenden Eisberges bekommt man jedoch in der Öffentlichkeit überhaupt zu sehen. Ein Großteil ergibt sich zu Hause den Tiefen des Internets auf der Suche nach einer Mitspielgelegenheit in der großen Orc-Schlacht, einer Abschreib-Vorlage für die verhassten Hausaufgaben, sozialen Illusionen auf Facebook oder einfach dem neuesten und hippsten Piepmatz-Klingelton, wenn es schon keine Rockhelden mehr gibt. Diese Generation braucht andere, neue Helden.

    

Die technisierte Utopie war schon Gegenstand vieler Rock- und Popsongs: Zager and Evans - In the Year 2525 (1969), Dee D. Jackson - Automatic Lover (1978), das YouTuber-Prophetenlied Living on Video von Trans-X (1982) oder Jamiroquais Virtual Insanity (1996) - und immer hat man nach außen hin geschmunzelt und die sich anbahnende Entwicklung verlacht. Die Message war stets zu direkt oder zu technisch-verkitscht, um ernst genommen zu werden. Und da ist plötzlich Elsa, die sich am Hang eines verschneiten Berges nicht zum klischeehaften 08/15-Bösewicht verwandelt, sondern angsterfüllt der Realität entflieht, um sich aus nacktem Eis eine ihrer Meinung nach befreiende Zukunft aufzubauen - eine kalte Zukunft ohne soziale Hoffnung. Sieht jemand die Parallele?

Kraftwerk hatte sie 1981 vorausahnend prophezeit und Udo Lindenberg prangerte sie bereits drei Jahre später an, diese nicht greifbare elektronische Sozialvernichtung, welche all jene befällt, die dazu gehören wollen oder unlängst wissen - oder glauben zu wissen -, dass sie nie dazu gehören werden, selbst wenn sie sich einen Eimer Eiswasser über den Kopf kippen. Die Paranoid Androids, wie Thom Yorke sie einst nannte, finden ihren Seelenfrieden längst nicht mehr in einem Stück wie Love Is an Open Door, wo ein naives Mädchen schicksalsgewollt auf ihren Traumprinzen hoffen darf. Die Zeiten sind spätestens seit der Erfindung von Online-Kontaktbörsen aus und vorbei. Anna ist Fairytale-Altlast für kleine Kinder, die noch an den Weihnachts- beziehungsweise Schneemann glauben. Es ist ihre Schwester Elsa, die trotz der Verzweiflung ihrer misslichen Lage das vermeintlich Positive abringt. Sie ist die Heldin der neuen Zeit, eine Frau des World Wide Webs, die in Foren analysiert, in Blogs glorifiziert, auf YouTube interpretiert wird und wurde, eine Frau der heutigen Generation, eine Frau aus kalten und sterilen Bits und Bytes. Let it go!

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